In diesem Werk liegt eine einzigartige Kraft und eine

vom Glauben beseelte Tiefe.

Mstislaw Rostropovitsch (1927-2007), Cellist, dem dieses Werk gewidmet ist

Der Sonnengesang des Hl. Franz von Assisi

für gemischten Chor, Violoncello und Schlagzeug (1997)

Aspekte eines außergewöhnlichen Werkes: Einführung in den „Sonnengesang“

Den großartigen Gesang auf die Schöpfung verfasste der Hl. Franz von Assisi am Ende seines Lebens 1224, als er schwer erkrankt war. Er ruft in schlichten, klaren Versen den Menschen zum Lobpreis Gottes in all seinen Geschöpfen auf. In seinem Sonnengesang werden der Schöpfer, die Natur, das Leben und der Tod verherrlicht.

 

Die inzwischen 80-jährige russische Komponistin Sofia Gubaidulina vertonte 1997 diesen ergreifenden Schöpfungshymnus für Chor, Violoncello und Schlagzeug. Allerdings will sie nicht lediglich den Text in Musik umsetzen, sondern ihre Komposition selbst als Gebet verstanden wissen.

Sofia Gubaidulina sagt selber über ihr Werk:

Dieses Werk habe ich dem wahrscheinlich größten Cellisten des 20. Jahrhunderts, Mstislaw Rostropowitsch, zu seinem 70. Geburtstag gewidmet. Und natürlich haben Inhalt und Charakter des Werkes auch mit seiner Persönlichkeit zu tun, die in meiner Vorstellung stets von Sonne, Sonnenlicht und Sonnenenergie erhellt ist. Die ungewöhnliche Kraft und Klangtiefe seines Instrumentes haben mich zu einer sehr wichtigen musikalischen Geste angeregt.

 

Formal gesehen gliedert sich das Werk in vier Abschnitte:

  • Verherrlichung des Schöpfers und seiner Schöpfung - Sonne und Mond

  • Verherrlichung des Schöpfers der vier Elemente: Luft, Wasser, Feuer und Erde

  • Verherrlichung des Lebens

  • Verherrlichung des Todes

Mir war klar, dass dieser Text auf keinen Fall fröhlich gesungen werden darf. Auf keinen Fall darf die Ausdruckskraft dieses Hymnus durch Musik verstärkt werden. Die Musik darf bei der Berührung mit solch heiligen Texten keineswegs gewählt, künstlich kompliziert oder übertrieben spannungsvoll wirken. Der Text stellt vielmehr eine Verherrlichung des Schöpfers und seiner Schöpfung durch einen sehr bescheidenen, einfachen Franziskanermönch dar.

Sofia Gubaidulina
Sofia Gubaidulina

Biographie

Sofia Gubaidulina wurde am 24.Oktober 1931 in Tschistopol (Republik Tatarstan) geboren. Sie studierte Klavier und Komposition am Konservatorium in Kasan. Bis 1963 setzte sie ihr Kompositionsstudium am Moskauer Konservatorium fort, u.a. bei Nikolai Pejko, einem Assistenten von Dmitri Schostakowitsch. Seither arbeitet Sofia Gubaidulina als freischaffende Komponistin. Zusammen mit Viktor Suslin und Wjatscheslaw Artjomow gründete sie 1975 die Improvisationsgruppe Astreja. Auf seltenen russischen, kaukasischen und mittelasiatischen Volksinstrumenten sowie auf selbst gebauten Klangkörpern erprobten sie neue Klänge und gelangten zu außergewöhnlichen Klangergebnissen und neuen Erfahrungen mit musikalischer Zeit.

 

Der jungen Gubaidulina begegnete die sowjetische Kritik mit großer Skepsis. Sowjetische Musikfunktionäre tadelten ihre Musik, weil ihr die „gesellschaftliche Relevanz“ fehle. Dies bedeutete nicht nur sehr lange Zeit Anerkennung nur hinter vorgehaltener Hand, sondern auch zahllose Diffamierungen, Ausreise- und Auftrittsverbote.

 

Der Durchbruch gelang ihr 1981 mit der Wiener Uraufführung des Violinkonzertes „Offertorium“ durch Gideon Kremer. Seinem engagierten Einsatz ist es auch zu verdanken, dass ihre Werke rasch in den westlichen Konzertprogrammen Verbreitung fanden. Heute zählt Sofia Gubaidulina zu den führenden, weltweit anerkannten Komponisten Russlands nach Schostakowitsch. Dies bekunden auch zahlreiche Aufträge namhafter Institutionen (u.a. BBC, Berliner Festwochen, The New York Philharmonic), eine stattliche Anzahl von CD-Einspielungen sowie vielfältige Ehrungen und Auszeichnungen.

 

Sofia Gubaidulina ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin, der Freien Akademie der Künste in Hamburg und der Königlich Schwedischen Musikakademie Stockholm. Zu ihren zahlreichen nationalen und internationalen Preisen gehört der Prix de Monaco (1987), der Russische Staatspreis (1992), der Spohr-Preis (1995), die Ehrenmedaille der Stockholmer Konzerthausstiftung in Gold (2000), die Goethe-Medaille der Stadt Weimar (2001), das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (2002), der Hamburger Bachpreis (2007) sowie der Preis der Europäischen Kirchenmusik (2009). Im Rahmen der Cannes Classical Awards wurde sie zum Living Composer gewählt (2003) und 2006 wurde sie von der Moskauer Musikzeitschrift Musykalnoje obosrenije zur „Person des Jahres“ gekürt. Seit 1991 lebt die Komponistin in Hamburg.

Der ursprüngliche Klang

Wenn Sofia Gubaidulina auch auf Grund ihrer Erziehung dem russischen Kulturkreis zuzuordnen ist, so spielt die tatarische Abstammung in ihrem Schaffen eine nicht unbedeutende Rolle. Ihre orientalische Prägung zeigt sich beispielsweise in einer östlichen Geisteshaltung, einem eigenwilligen Verhältnis zwischen Ornament und Simplizität und in einem Zeitverständnis, das der europäischen Kultur im Wesen fremd ist: „Ein Kunstwerk ist für mich – so nenne ich es für mich – eine Schöpfung der essentiellen Zeit.“

 

Sofia Gubaidulina schreibt eine Musik, die direkt zur Seele spricht. Ihre Stücke leben vom Klang, der ohne den Umweg über kunstvolle Formen mit der Unmittelbarkeit eines Naturereignisses auf die Hörer eindringt. Neue Kompositionsmittel verbinden sich mit traditionellen Formen – zu ihren wichtigsten Bezugspersonen gehört Johann Sebastian Bach – und die formale Perfektion geht Hand in Hand mit künstlerischer Spontaneität.

 

Ihr Schaffensprozess ist einheitlich geblieben, kaum berührt von den verschiedenen Stilrichtungen der letzten 20 Jahre: „Mein Weg ist eher ebenmäßig. Mir scheint, dass ich die ganze Zeit durch meine Seele reise, in eine bestimmte Richtung, immer weiter und weiter. Einerseits ist es immer das Gleiche und andererseits – gleichsam immer neue Blätter, wie in der Natur […]

 

Ausgangspunkt für Gubaidulinas Werke ist immer wieder der „ursprüngliche Klang“, ein Klang, der gleichsam außerhalb der Zeit existiert und den sie in der Stille findet. Dieser Klang sei nicht notierbar, und es gehe nun darum, „die Fantasie zu entwickeln, um diesen Klang in Form zu bringen und ihn in der wirklichen, astronomischen Zeit darzustellen“. Wenn der Hörer – in den seltenen Augenblicken – etwas von diesem außerzeitlichen Klang spüre, geschehe etwas Wunderbares.

 

Texte mit freundlicher Genehmigung der Weingartener Tage für Neue Musik.

www.weingarten-neue-musik.de